Fluchtursachen der Hauptherkunftsländer: Hinter dem Leid der Syrer*innen

Steigende Zahlen von Schutzsuchenden im Jahr 2022, die nicht aus der Ukraine kommen, wurden breit debattiert. Häufig eindimensional und lediglich im Zusammenhang mit möglichen Belastungsgrenzen bei der Unterbringung. Kaum erwähnt wurde hingegen, wer diese Menschen sind und warum diese gerade jetzt zur Flucht gezwungen werden. Wir wollen zu den Hauptherkunftsländern von Geflüchteten in Sachsen (Syrien, Afghanistan, Türkei und Venezuela) etwas mehr in Erfahrung bringen und beginnen mit einem Überblick zur aktuellen Lage in Syrien.

Warum fliehen Syrer*innen weiterhin?

Die Welt befindet sich in einer immensen, vom Menschen verursachten Krise. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt gerade in den letzten drei Jahrzehnten entsetzliches menschliches Leid erlebt, vom Irak bis zum Ukraine-Krieg, von Afghanistan bis zum syrischen Hybridkrieg, von Somalia bis zur Jemen-Krise, vom Kongo bis zum äthiopischen Bürgerkrieg.

Vor 12 Jahren begann der zerstörerische und tragische Krieg in dem Land nach den Protesten gegen das Regime von Präsident Assad im März 2011. Er verwandelte sich in einen hybriden Krieg, bei dem die syrische Regierung von Russland und dem Iran unterstützt wird, während die regierungsfeindlichen Rebellengruppen von den Vereinigten Staaten, Saudi-Arabien, der Türkei und anderen Ländern der Region unterstützt werden.

Syrische Gebäude wurden in Schutt und Asche gelegt, Tausende von unschuldigen syrischen Menschen haben ihr Leben verloren. Millionen von Menschen sind in die Nachbarländer und nach Europa geflohen, um ihr Leben zu retten. Die Mainstream-Medien wurden von den Schlagzeilen „Krieg in Syrien“ eingenommen, und die Welt beobachtete dieses entsetzliche menschliche Leid.

Der andauernde Konflikt wird von hauptsächlich drei Faktoren angetrieben: 1. den Bemühungen der Koalition, den Islamischen Staat zu besiegen; der Gewalt zwischen der syrischen Regierung und den Oppositionskräften und den Militäroperationen der türkischen Streitkräfte gegen die syrischen Kurd*innen.

Einer Studie zufolge haben seit März 2011 mehr als 10 Millionen Syrer*innen ihre Heimat verlassen und Zuflucht in Nachbarländern, einschließlich Europa, gesucht. Diese Fluchtbewegung hält bis heute an. Allein zwischen 2015 und 2019 wurden mehr als 1.622.954 Menschen als Asylbewerber registriert, wobei Syrer die größte einzelne Nationalität darstellen.

Von Januar bis Dezember 2022 sind 217.774 Erstanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingegangen. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres wurden 148.233 Erstanträge gestellt; dies entspricht einem Anstieg von 46,9 % gegenüber dem Vorjahr. An erster Stelle steht Syrien mit 70.976 Erstanträgen, das sind 29% mehr als im Vorjahr mit 54.903 Erstanträgen.

12 Jahre Krieg hinterlassen in weiten Teilen des Landes nichts als Zerstörung – die Erdbeben der letzten Wochen sorgen gerade in Nordsyrien für eine Zuspitzung der katastrophalen Lage im Land. Foto: Mahmoud Sulaiman

Einblicke in syrische Realitäten

Abbas, ein 30-jähriger Geflüchteter, kam im September 2021 nach Deutschland, um dem obligatorischen Militärdienst in Syrien zu entgehen. Er befindet sich jetzt im Freistaat Sachsen und besucht einen Integrationskurs: „Ich habe mein Medizinstudium abgeschlossen und möchte in Deutschland ein neues Leben als Facharzt beginnen. Ich habe nur ein Jahr dort gearbeitet, aber ich habe meine Spezialisierung nicht abgeschlossen“, sagte er.

„Als ich in Syrien war, waren die Lebenshaltungskosten furchtbar und erschreckend. Es ist eine Katastrophe für eine Familie, das Leben zu erhalten. Ein Mediziner verdient nur 30 Euro im Monat.  Eine Familie muss etwa 200 Euro pro Monat zum Leben ausgeben. Sie verdienen aber nur 30 Euro/Monat. Die Lebenshaltungskosten sind sehr hoch. Das Familienoberhaupt muss mehrere Jobs haben, um zu überleben“, erklärte Abbas die harten Lebensbedingungen in Syrien. 

14,6 Millionen Menschen aus Syrien benötigten im Jahr 2022 humanitäre Hilfe, das sind 1,2 Millionen mehr als 2021, und ein Anstieg von 6,4 Millionen im Jahr 2020 auf 9,2 Millionen im Jahr 2021. Die Daten zeigen, dass Syrien mit 6,8 Millionen Hilfslieferungen pro Monat im vergangenen Jahr weiterhin das Land mit den meisten humanitären Maßnahmen weltweit ist.

Obwohl die humanitären Helfer und andere betroffene Einrichtungen auf eine Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien gehofft haben, haben sich die makroökonomischen Bedingungen im Jahr 2021 weiter verschlechtert und scheinen auch weiter abzunehmen. Neben den Kampfhandlungen gibt es verschiedene sozioökonomische Faktoren, die Syrer*innen dazu veranlassen, das Land zu verlassen, wie etwa die kombinierten Auswirkungen von Währungsabwertung, steigenden Preisen, geringeren Steuereinnahmen und zunehmender Inlandsverschuldung sowie der weit verbreitete Verlust von Existenzgrundlagen.

Borhan Akid, 30 Jahre alt, ist ein in Syrien geborener Journalist, der in Deutschland im Exil lebt. Er kam 2015 nach Deutschland, um Zuflucht zu suchen, und arbeitet derzeit beim Westdeutschen Rundfunk (WDR). Er berichtet: „In Syrien herrscht ein andauernder Konflikt, und die Pandemie hat das Problem in den letzten Jahren weiter verkompliziert. Ich habe Kontakt zu vielen Menschen, die Familien in Syrien haben; die Menschen sind mit der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Beginn des Krieges konfrontiert.“

Obwohl Russland und die Türkei im März 2020 vereinbart haben, die Feindseligkeiten und Massenvertreibungen in Idlib einzudämmen, haben sich die Feindseligkeiten im Laufe des Jahres 2021 entlang der Frontlinien im Nordwesten, Nordosten und Süden des Landes verschärft, die sich seit 2020 nicht wesentlich verschoben haben. Dies erhöht den humanitären Bedarf in erheblichem Maße.

Die meisten Menschen verlieren ihre Hoffnung auf ein Überleben in Syrien, “junge Menschen verlassen das Land, um dem obligatorischen Militärdienst zu entgehen. Im Norden Syriens – Aleppo und Idlib – und im Nordosten – Al-Halasaka – herrscht weiterhin Krieg. Die Mitte Syriens ist nicht sehr sicher, weil es überall militärische Kontrollpunkte gibt. Sie kontrollieren alle zwei bis drei km deinen Ausweis. An freie Meinungsäußerung und Bewegungsfreiheit ist überhaupt nicht zu denken. Es herrscht immer noch Krieg in Al-Dana, wo die Revolution begann. Millionen sind aus Syrien in die beiden Nachbarländer und nach Europa geflohen“, sagte Abbas.

Kürzlich hat der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) angedeutet, dass es zu Abschiebungen nach Syrien kommen könnte. Für Petra Čagalj Sejdi, Sprecherin für Asyl, Migration und Integration der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Sächsischen Landtag, sind Abschiebungen nach Syrien jedoch nicht mit dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung vereinbar.

In der Debatte wird von Herrn Schuster und vielen anderen Akteuren gerne das Bild von „Gefährdern“ und „Kriminellen“ gezeichnet, die zum Schutz abgeschoben werden müssen. Auch solche Forderungen sind völkerrechtswidrig. Für mich stellt sich immer die Frage, wie und aus welchen Gründen Menschen zu „Kriminellen“ / „Gefährdern“ werden. Oft sind es die Umstände in unserem Land, die dazu beitragen und nicht das Land, aus dem die Person geflohen ist. Abschiebungen nach Syrien würden auch eine Zusammenarbeit mit dem menschenverachtenden Regime in Damaskus erfordern. Eine solche Zusammenarbeit ist für uns nicht akzeptabel“, sagte Čagalj Sejdi.

Der Klimawandel verschlimmert die Krise in Syrien

Die Auswirkungen des vom Menschen verursachten Klimawandels haben nicht nur die Krise in Syrien verschlimmert, sondern sind auch ein großes globales Risiko und eine Ursache für viele miteinander verknüpfte Krisen in der ganzen Welt. Vor allem Syrien ist mit klimatischen und vom Menschen verursachten Schocks konfrontiert, die natürliche Ressourcen wie Wasser betreffen.

Extreme Wetterereignisse in Verbindung mit einem historisch niedrigen Wasserstand des Euphrat haben die Verfügbarkeit von Trinkwasser und die Stromerzeugung aus Wasserkraft eingeschränkt, Ernte- und Einkommensverluste begünstigt, zu einer Zunahme von durch Wasser übertragenen Krankheiten geführt und andere miteinander verbundene Schäden verursacht.

„Im Norden Syriens herrscht Wasserknappheit. Millionen von Menschen benötigen medizinische Versorgung, und viele Menschen sterben, weil es an Medikamenten mangelt. Es gibt auch Stromausfälle. Die Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze“, sagte Akid und erläuterte das Ausmaß der Umweltschäden.

Die beiden schweren Dürreperioden in Syrien, 1998-2001 und 2006-2010, führten zu einem Temperaturanstieg und einem Rückgang der Niederschläge, was sich auf die Bodenfeuchtigkeit auswirkte. Neben den Auswirkungen der Dürre hat der Krieg die soziale Ungleichheit erhöht und die syrische Landwirtschaft zerstört. Die Daten zeigen, dass der Sektor seit 2011 um mehr als 40 % geschrumpft ist und die Luftangriffe der Regierung und ausländischer Mächte die Wasser- und Abwasseraufbereitungsinfrastruktur so stark beschädigt haben, dass der Zugang zu sauberem Wasser um 50 % zurückgegangen ist.

Der Klimawandel in Verbindung mit Lebensmittel- und Energieversorgungskrisen, Lebenshaltungskosten, Inflation und geopolitischer Zersplitterung, die die geoökonomische Kriegsführung vorantreiben, sind die größten globalen Risiken im Jahr 2023. Syrien hat mit einer Kombination all dieser Krisen zu kämpfen.

Noch immer leben hunderttausende Menschen aus Syrien in Lagern und sind auf tägliche Lebensmittelspenden angewiesen. Doch mit der Aufmerksamkeit schwindet auch die Bereitschaft zu Spenden. Foto: Julie Ricard/unsplash

Der Weg zur Integration

Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, haben sich im Jahr 2021 rund 131.600 Ausländer in Deutschland einbürgern lassen, darunter 19.100 Syrer.

Schätzungsweise 800.000 Syrer leben in Deutschland und sind damit nach Menschen aus der Türkei und Polen die drittgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe. Die Menschenrechtsgruppe, Adopt a Revolution wies jedoch darauf hin, dass 200.000 Syrer*innen, die in Deutschland Schutz suchen, von der Verpflichtung zur Beschaffung eines Passes betroffen sind.

„Das Asylverfahren dauert sehr lange, und sie müssen in schlechten Unterkünften wohnen. Sie müssen schnell arbeiten. Vielleicht muss das BAMF mehr Mitarbeitende haben. Drei Monate in Lagern sind okay, aber sechs Monate sind zu lang“, sagt Abbas.

Akid teilt Abbas‘ Meinung: „Auch wenn der Integrationsprozess für Syrer*innen in Deutschland gut ist, müssen die Unterkünfte und die lange Wartezeit im Asylverfahren verbessert werden. Viele Syrer*innen werden zu Integrationskursen zugelassen, aber viele Menschen müssen lange warten, um in einen Integrationskurs zu kommen. Menschen aus der Ukraine sind heutzutage willkommener als Syrer, aber es gibt noch so viele Organisationen, die Geflüchtete in ganz Deutschland unterstützen“, sagte Akid. 

“Menschen, die schon in Deutschland leben, wollen ihre Verwandten nachholen, aber sie können sie nur in einigen Bundesländern nachholen. Wenn die Familienzusammenführung erlaubt wird, könnte dies die illegale Migration verringern und Leben retten. Die meisten Familien hier haben Arbeit, so dass sie die Kosten tragen können“, erklärt Akid.

Für Čagalj Sejdi ist der Integrationsprozess nicht immer zielführend: „Wir diskutieren derzeit über ein sächsisches Integrations- und Teilhabegesetz. Was muss darinstehen, damit alle Menschen mit Migrationsgeschichte gleichberechtigt an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben können? Wir Bündnisgrünen haben eine Reihe von Punkten identifiziert, die angegangen werden müssen, wie Antidiskriminierung, paritätische Besetzung von Gremien, Migrantenbeiräte und Partizipationsbeauftragte in den Kommunen, eine diversitätssensible und postmigrantische Verwaltung und ausreichende Beratungs- und Unterstützungsangebote, insbesondere zum Self-Empowerment“, so Čagalj Sejdi.

Burhan macht auch den Rassismus auf dem Wohnungsmarkt verantwortlich: „Wohnungen sollten für Geflüchtete bezahlbar und verfügbar sein, denn Deutschland braucht zu viele Arbeitskräfte. Viele Menschen leben in Wohnungen, aus denen sie nicht herauskommen und ein neues Leben beginnen können. Denn Rassismus ist das Problem hier in Deutschland. Viele Ministerien arbeiten daran, ihn abzubauen“, sagte Burhan.

Improvisierte Massenunterkünfte sind auch in Europa oder der Türkei über Jahre Alltag für viele Schutzsuchende aus Syrien. Foto: Julie Ricard/unsplash

“Von dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe und einer postmigrantischen Gesellschaft sind wir noch weit entfernt. Aber ich muss auch sagen, dass sich schon viel getan hat, wenn ich mir zum Beispiel die vielen Projekte anschaue, die über die Förderrichtlinie „Integrative Maßnahmen“ gefördert werden oder die zunehmend selbstbewussten migrantischen Selbstorganisationen. Die vielfältige Gesellschaft ist ein Prozess. Ich bin froh, dass dieser Prozess in Gang gesetzt wurde“, so Čagalj Sejdi.

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